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Klimaneutralität klar kalkuliert
Um seine Klimaschutzziele bis 2050 zu erreichen, muss Deutschland sein Energiesystem umfassend umgestalten. Doch wie gelingt das mit möglichst geringen Kosten? Und führt das aktuelle Klimaschutzpaket der Regierung zum Ziel? Jülicher Wissenschaftler haben eine ganze Familie von Computermodellen entwickelt, mit denen sie diese Fragen beantworten können.
Die Aufgabe
Mithilfe von Computermodellen haben die Forscher vom Institut für Energie- und Klimaforschung (IEK-3) den Umbau des deutschen Energiesystems simuliert. Ihr Ziel: ausgehend von heute Schritt für Schritt den wirtschaftlich günstigsten Weg bis ins Jahr 2050 zu berechnen. In der Studie hatten sie zwei verschiedene Emissionsziele betrachtet, einmal eine Verringerung der Treibhausgase um 95 Prozent, einmal um 80 Prozent. Nur das 95-Prozent-Szenario entspricht annähernd der Klimaneutralität, wie sie von der EU angestrebt wird, daher werden im Folgenden die Ergebnisse dieser Berechnungen vorgestellt.
Die Annahmen
- Die deutsche Wirtschaft wächst bis 2050 kontinuierlich um 1,2 Prozent pro Jahr.
- Die Zahl der Einwohner in Deutschland verringert sich geringfügig auf 76,6 Millionen. Die Zahl der Haushalte steigt trotzdem, weil der Trend zu kleineren Haushaltsgrößen anhält.
- Deutschland steigt bis 2038 aus der Verstromung von Kohle entsprechend den Empfehlungen der Kohlestrukturkommission aus.
- Deutschland steigt bis 2022 aus der Kernenergie aus.
- Die Stromnetze werden bis 2030 entsprechend den Planungen der Bundesnetzagentur ausgebaut.
- Es wird kein Kohlendioxid (CO2) in unterirdischen Lagerstätten gespeichert.
Energiebilanz im Jahr 2050 bei einer Minderung der Treibhausgasemissionen um 95 Prozent. Der Primärenergieverbrauch ist die benötigte Energiemenge, die aus natürlich vorkommenden Energiequellen und Energieimporten verfügbar ist. Sie wird über verschiedene Energieträger an den Endverbraucher geliefert.
„Die Energiewende ist zweifellos noch lange mit hohen Investitionen verbunden. Allerdings sind die Transformationskosten planbar und überschaubar, während nachträgliche Anpassungskosten an den Klimawandel unsicher sind und um ein Vielfaches höher sein dürften.“
Martin Robinius, Leiter der Studie
Wichtige Ergebnisse
ERWARTETE KOSTEN
Bei der kostengünstigsten Weise, den deutschen CO2-Ausstoß bis 2050 um 95 Prozent zu senken, muss Deutschland über einen Zeitraum von 30 Jahren insgesamt 1.850 Milliarden Euro aufbringen. Die jährlichen Kosten steigen dabei von etwa 9 Milliarden Euro im Jahr 2030 über 71 Milliarden im Jahr 2040 bis auf 128 Milliarden Euro im Jahr 2050 an. Das sind zweifellos erhebliche Beträge. Die wirtschaftliche Belastung ist aber nicht so hoch, wie man vermuten könnte, sondern liegt in der Größenordnung der heutigen Ausgaben für die Energieversorgung. 2018 gab Deutschland 63 Milliarden Euro für Energieimporte aus, das entsprach 1,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Die 128 Milliarden Euro im Jahr 2050 entsprächen 2,8 Prozent des dann erwarteten Bruttoinlandprodukts.
ENERGIEVERBRAUCH
Der Stromverbrauch wird bis 2035 gegenüber heute nahezu konstant bleiben, dann aber bis 2050 um 80 Prozent ansteigen. Denn um den CO2-Ausstoß zu reduzieren, werden die fossilen Energieträger ersetzt. Das gelingt mit Technologien, die Strom benötigen: etwa mit elektrischen Wärmepumpen zur Raumheizung anstelle von Öl- und Gasheizungen oder mit Power-to-X-Technologien, die beispielsweise mit Strom aus erneuerbaren Energien Wasserstoff produzieren – ein künftig erforderlicher Energieträger.
ENERGIEQUELLEN
Das Rückgrat der künftigen Stromerzeugung sind Windkraft und Photovoltaik. Deutsche Anlagen produzieren 2050 jeweils fast das Sechsfache der Strommenge, die sie heute erzeugen. Somit muss Deutschland bis dahin jährlich zusätzliche Windkraftanlagen mit einer Kapazität von 6,6 Gigawatt und Solaranlagen mit 3,9 Gigawatt bauen. Das liegt um ein Vielfaches über den heutigen Ausbauraten.
Biomasse und Biogas decken 2050 ein Viertel des deutschen Energiebedarfs – sie liefern vor allem Wärme für Gebäude und Industrieprozesse.
Die Abhängigkeit von Energieimporten wird erheblich sinken: Während heute rund 70 Prozent der Energie importiert werden, liegt der Anteil 2050 bei 20 Prozent.
ENERGIEEFFIZIENZ
Zur CO2-Reduktion ist es unerlässlich, Energie in allen Verbrauchssektoren – Gebäude, Verkehr, Industrie – effizienter zu nutzen. Da die Stromerzeugung bis zum Jahr 2035 noch mit einem beträchtlichen CO2-Ausstoß verbunden ist, ist es besonders wirkungsvoll, sofort Maßnahmen zum Energiesparen zu ergreifen. Zum Beispiel muss Deutschland seinen Gebäudebestand bis zum Jahr 2035 doppelt so schnell energetisch sanieren wie bisher. Wärmepumpen steigen bis zum Jahr 2050 zur wichtigsten Heizungstechnik auf.
ENERGIESPEICHER
Damit Deutschland auch bei einer tagelangen sogenannten kalten Dunkelflaute – hoher Heizungsbedarf, keine Sonne, kein Wind – über genügend Energie verfügt, braucht es riesige Energiespeicher. Dafür eignen sich unterirdische Hohlräume etwa in Salzstöcken, in die Wasserstoff eingelagert und wieder entnommen wird. Zu diesem Zweck lassen sich auch unterirdische Erdgasspeicher umwandeln. Als preiswerteste Möglichkeit, um schnell auf kürzere Schwankungen bei Energieerzeugung oder Energieverbrauch zu reagieren, erweisen sich Speicherkraftwerke, bei denen Luft unter Druck in einen Hohlraum gepumpt wird. Bei Strombedarf wird diese Luft dann verwendet, um Turbinen anzutreiben.
2050 werden jährlich knapp 12 Millionen Tonnen Wasserstoff benötigt. Die Hälfte davon stammt aus der inländischen Elektrolyseproduktion, die andere Hälfte verkaufen ausländische Elektrolysestandorte nach Deutschland. Um den Wasserstoff in Deutschland kosteneffizient zu transportieren und zu verteilen, ist der Bau von Pipelines notwendig.
Die Computermodelle
Rund ein Dutzend Wissenschaftler des Jülicher Instituts für Energie- und Klimaforschung (IEK-3) haben eine neuartige Familie von Computermodellen entworfen. Alle Module dieser Familie sind kombinierbar und zeichnen sich durch eine außergewöhnlich große zeitliche und räumliche Detailtiefe aus: Beispielsweise kann eines der Modelle für jede Stunde und für jeden Längen- und Breitengrad analysieren und vorhersagen, wie viel erneuerbare Energie in Europa verfügbar ist.
Es greift auf die Wetterdaten der letzten 37 Jahre zu und berücksichtigt unter anderem die Vorschriften für den Bau neuer Photovoltaik- oder Windkraftanlagen, etwa deren Mindestabstände zu Gebäuden. Ein anderes Modell bildet das europäische Höchst- und Hochspannungsnetz auf Grundlage der existierenden Ausbaupläne ab und liefert somit wesentliche Informationen über mögliche Im- und Exporte von Strom.
Die Daten aus allen Einzelmodellen haben die Wissenschaftler in die zentrale Komponente der Modellfamilie eingespeist, in NESTOR (National Energy System Model with integrated SecTOR coupling). NESTOR bildet die gesamte deutsche Energieversorgung über alle Verbrauchssektoren hinweg samt den Kosten ab, und zwar von der Energiequelle über alle denkbaren Pfade bis hin zur letztlich genutzten Energie. Dabei sucht sich NESTOR auf dem Weg ins Jahr 2050 und zum 95-Prozent-Reduktionsziel für jeden Zeitpunkt das technologisch und ökonomisch beste Energiesystem. Mit einer neuen Methode lassen sich zudem die Unsicherheit künftiger Kosten berücksichtigen.
Weitere Informationen zur Studie finden Sie auf fz-juelich.de
Frank Frick
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