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Forschung
Lockdown als Real-Labor
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Lockdown als Real-Labor
Mit einem Zeppelin haben Astrid Kiendler-Scharr und ihr Team während der Corona-Pandemie Spurengase und Feinstaub in luftiger Höhe gemessen. Eine Übersichtsstudie fasst solche Messkampagnen aus der ganzen Welt zusammen.
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Was passiert, wenn die Menschheit weniger Schadstoffe in die Luft pustet? Diese Frage beantwortet die Klimaforschung üblicherweise mit komplexen Rechenmodellen. Im Frühjahr 2020 änderte sich das.
Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns bescherten nicht nur einen freien Blick auf den Himalaja oder surreale Bilder eines verlassenen Venedigs. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bot sich eine bis dato einmalige Chance: Sie konnten live verfolgen, wie sich die Chemie der Atmosphäre ändert, wenn tatsächlich weniger Luftschadstoffe ausgestoßen werden. Davon wiederum profitiert die Vorhersagekraft der Modelle.
Bild oben: Mit einem Zeppelin haben Astrid Kiendler-Scharr und ihr Team während der Corona-Pandemie Spurengase und Feinstaub in luftiger Höhe gemessen. Eine Übersichtsstudie fasst solche Messkampagnen aus der ganzen Welt zusammen.
„Die Maßnahmen, um die Ausbreitung von SARS-CoV-2 einzudämmen, haben die Welt für uns in ein Real-Labor verwandelt“, bestätigt Prof. Astrid Kiendler-Scharr, die am Institut für Energie- und Klimaforschung den Bereich Troposphäre leitet und seit Kurzem Vorstandsvorsitzende des Deutschen Klima-Konsortiums ist. „Forschende aus aller Welt messen, vergleichen und bewerten, wie sich die Zusammensetzung der Luft, die wir atmen, während der Lockdowns verändert hat und was bei den folgenden Lockerungen geschieht“, fügt sie an.
Ozonwerte gestiegen
Im April 2021 stellte ein internationales Team unter Jülicher Leitung eine erste umfangreiche Übersichtsstudie dieser weltweiten Messkampagnen vor, die zunächst Daten bis September 2020 umfasst. „Weitere Studien über weitere Zeiträume folgen“, sagt Astrid Kiendler-Scharr, „es dauert immer etwas, bis alle Messdaten korrekt ausgewertet und schließlich publiziert sind.“ Damit der Wissenstransfer schneller geht, richtete das Jülicher Team eine Website ein, auf der Forscherteams Messergebnisse fortlaufend hinzufügen können.
Ein zentrales ‑ und zunächst wenig überraschendes – Ergebnis der Studie: Lockdowns, die einzig das Bremsen des Infektionsgeschehens zum Ziel hatten, reduzierten weltweit auch die Belastung der Atmosphäre mit Stickstoffdioxid und Feinstaub aus menschengemachten Quellen. „Und je strikter die einschränkenden Maßnahmen, desto stärker die Wirkung“, erklärt die Forscherin. Die Werte für das bodennahe Ozon hingegen, das für Lebewesen ab einer gewissen Konzentration gesundheitsschädlich ist, sind in dieser Phase gestiegen. „Ursache sind atmosphärenchemische Prozesse, die durch ein Weniger an Stickoxiden in der Luft bedingt werden“, erläutert sie.
Video des Deutschen Klima-Konsortiums
Astrid Kiendler-Scharr über Extremwetter und Klimawandel Wichtige Stellschraube
Diese Daten sind die Basis, um noch besser berechnen zu können, wie sich die vom Menschen emittierten Luftschadstoffe auf die Atmosphärenchemie und den Strahlungshaushalt der Erde auswirken. „Über eine Reduktion des Ausstoßes von kurzlebigen Klimaschadstoffen, wie Aerosolen, Feinstaub, Kohlenwasserstoffen, Ozon und deren Vorläufern sowie Methan, halten wir eine enorm wichtige Stellschraube in Händen, um das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen. Denn schnelle Einsparungen dieser Schadstoffe wirken sich in kurzer Zeit aus und können damit einen wesentlichen Beitrag leisten, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten“, betont Astrid Kiendler-Scharr. „Darüber hinaus leidet ja nicht nur das Klima unter diesen kurzlebigen Luftschadstoffen, sondern auch die Gesundheit der Menschen. Eine rasche Reduktion begegnet also gleich zwei große gesellschaftliche Herausforderungen.“
Mit Spannung wird daher die Veröffentlichung des Kapitels „Short-lived Climate Forcers“, auf Deutsch „kurzlebige Klimaschadstoffe“, des Sechsten Sachstandsberichtes des Weltklimarats (IPCC) im August 2021 erwartet. Astrid Kiendler-Scharr ist Leitautorin des Kapitels. In dieser Rolle sichtet und analysiert sie derzeit gemeinsam mit einem internationalen Team die weltweit vorhandene wissenschaftliche Literatur zum Thema. „Zu den Details unserer Analysen werden wir im August ausführlich Stellung beziehen“, kündigt sie an.
Brigitte Stahl-Busse
Covid-19 Air Qualtiy Data Collection:
covid-aqs.fz-juelich.de
Interview mit Astrid Kiendler-Scharr über Fortschritte in der modernen Klimaforschung und zur Bedeutung der kurzlebigen Klimaschadstoffe:
fz-juelich.de/portal/DE/Presse/ Pressemitteilungen/ 2021/2021-08-09-ipcc/ Große Unterschiede
Die Konzentration kurzlebiger Klimaschadstoffe in der Atmosphäre nimmt rasch ab, sobald ihre Emissionen gestoppt werden – je nach Substanz innerhalb von Wochen oder wenigen Jahren. Anders sieht es bei dem heute in der Atmosphäre vorhandenen CO2 aus. Die derzeitige hohe Konzentration bleibt – selbst bei Erreichen einer Null-Emissions-Quote – ohne Gegenmaßnahmen noch über Jahrhunderte bestehen.
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