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Forschung
Der Brückenbauer
Ghaleb Natour kam 1979 nach Deutschland. Als Palästinenser in Israel geboren, sah er in seiner Heimat für sich keine Zukunft. 41 Jahre später hat er von Jülich aus die bundesweit größte deutsch-palästinensische Forschungskooperation aufgebaut.
Das riesige Foto an der Wand zieht den Blick des Betrachters auf sich: Ein knorriger Olivenbaum ziert das Bild. Fest verwurzelt, über Jahrhunderte gewachsen. Stärke, Zuversicht und Ruhe strahlt das Motiv aus – ähnlich wie jener Mann, der es fotografiert hat: Ghaleb Natour, Direktor des Zentralinstituts für Engineering, Elektronik und Analytik und Professor an der RWTH Aachen, der 1960 als Palästinenser in Israel geboren wurde. „Die Früchte, die Gerüche – ich identifiziere mich mit dem Land, egal, wie es heißt!“ Seine palästinensischen Landsleute schütteln oftmals verständnislos den Kopf, wenn der 60-Jährige betont, dass er Israeli und Palästinenser sei: „Das ist wie bei vielen Menschen mit der Religion: Entweder ist man Moslem oder Christ, dazwischen gibt es für sie nichts“, sagt Natour. Ihm aber ist jener Spagat gelungen: mit einer deutschen Ehefrau, katholischen Schwiegereltern, muslimischen Eltern und zwei Kindern, die beiden Religionen offen gegenüber stehen. Der Physiker ist ein Brückenbauer zwischen Palästina, Deutschland und Israel, ohne erhobenen Zeigefinger, mit viel Geduld, Kraft und Zuversicht.
„Wir wollen den Studierenden eine Zukunft als Wissenschaftler in Palästina ermöglichen.“
Ghaleb Natour
Nach Deutschland kam er 1979, da er in Israel keine Zukunft für sich sah – zu stark waren die Diskriminierungen, die Natour als junger arabischer Palästinenser in Israel erlebt hat. Der 19-Jährige landete in Heidelberg, lernte Deutsch, studierte Physik – und blieb. Diese Entscheidung hat er nie bereut. Die tiefe Verbundenheit zu seinem Geburtsland ist aber geblieben. Und so hatte er schon als junger Mann im Hinterkopf, seine Erfahrungen eines Tages für Innovationsprojekte im Nahen Osten einzusetzen.
Rawan Mlih, 38 Jahre, promoviert am Institut für Bio- und Geowissenschaften
Ich war bereits 2015 für meine Masterarbeit in Jülich. 2018 bin ich zurückgekommen, um zu promovieren. Jülich ist ein High-Technology-Standort und bietet Studierenden viele Möglichkeiten zu forschen. Außerdem haben in Deutschland auch Frauen die Chance, eine Karriere in der Wissenschaft anzustreben. In Palästina entscheiden sich zwar auch Frauen für einen wissenschaftlichen Zweig, aber nicht, um Forscherin zu werden, sondern Lehrerin. Oder aber sie landen in der Arbeitslosigkeit. Mir gefällt es außerdem, dass Menschen in Deutschland ihre Meinung frei äußern dürfen.
Einmalige Zusammenarbeit
Anfänglich waren es nur kleinere Aktivitäten wie Vorträge für Wissenschaftler in Palästina. Aber die Idee eines Austauschs nahm immer mehr Kontur an, bis Natour schließlich die Palestinian-German Science Bridge erfolgreich beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) beantragte: 2016 fiel der Startschuss. Heute, 2020, kann das Forschungszentrum auf eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern blicken, die einmalig in Deutschland ist. Etwa 50 Palästinenser haben über die Jahre das Angebot genutzt, in Jülich zu forschen. Der Frauenanteil liegt bei gut 50 Prozent. Inzwischen übersteigt die Bewerberquote deutlich die vorhandenen Plätze. „Das sind exzellente Bewerberinnen und Bewerber, die als wissenschaftlicher Nachwuchs ein Gewinn für das Forschungszentrum sind“, betont Caitlin Morgan von der Unternehmensentwicklung, die den organisatorischen Part der Science Bridge verantwortet.
Es geht jedoch nicht nur um Exzellenzförderung. „Wir wollen eine nachhaltige Infrastruktur für Experimente und wissenschaftliche Messungen aufbauen, damit an den palästinensischen Universitäten neben dem reinen Lehrbetrieb ein Forschungsbetrieb entsteht, der Studierenden eine Zukunft in der Wissenschaft ermöglicht“, erklärt Ghaleb Natour.
Was viele nicht wissen: An den palästinensischen Universitäten wird gelernt und gelehrt, aber selten geforscht. Es gibt kaum Labore oder Großgeräte. „Würde man beispielsweise eine Drehbank nach Palästina verschicken, damit Maschinenbauer lernen, wie sie ein solches Gerät bedienen, würde es gar nicht erst den israelischen Zoll passieren, mit der Begründung, dass die Palästinenser damit Waffen bauen könnten“, erklärt Natour.
Aber der 60-Jährige lässt sich nicht entmutigen. Stattdessen führt er immer wieder Gespräche mit den Präsidenten der palästinensischen Hochschulen, um Überzeugungsarbeit im Dienste der Forschung zu leisten. Oder er unterhält sich mit jungen Hochschullehrern, die seine Ansätze verstehen und unterstützen. „Mit ihnen und mit den Absolventen aus Jülich bauen wir die Forschungsinfrastruktur Stein um Stein auf“, gibt sich Natour zuversichtlich. Dazu zählen auch Rawan Mlih, Hasan Sbaihat und Falastine Abusaif: Sie promovieren in Jülich und wollen Palästinas wissenschaftliche Zukunft mitgestalten. Und auch die Jülicher Institutsleiter bestätigen Natour immer wieder, wie ehrgeizig, motiviert und diszipliniert die Gäste aus dem Nahen Osten arbeiten. „Wir haben die Kooperation mit einem Institutsleiter in Jülich begonnen, heute sind 22 dabei!“, freut sich Natour.
Falastine Abusaif, 32 Jahre, promoviert am Institut für Kernphysik
Dank der Science Bridge konnte ich meinen Traum von einer Promotion als Kernphysikerin in Jülich verwirklichen – und zwar unter den Arbeitsbedingungen, die man für hochpräzise physikalische Experimente benötigt. Erstaunlicherweise studieren in Deutschland vor allem Männer Mathematik und Physik, das ist in meiner Heimat anders. Aber ich muss ehrlich zugeben: Ich vermisse meine Heimat sehr, meine Nachbarn, das soziale Gefüge und den islamischen Gebetsruf in der Moschee – vor allem während des Ramadan-Monats.
Waren die ersten Jahre der Kooperation noch einseitig geprägt – junge Palästinenser kamen nach Jülich –, findet zunehmend ein wechselseitiger Austausch statt: Übers Jahr verteilt geben deutsche Wissenschaftler in Ramallah Seminare, halten Workshops und Vorlesungen. Und es gibt – neben der Motivation, neue Eindrücke zu sammeln – noch einen weiteren Aspekt, der Jülicher Wissenschaftlern den Aufenthalt in Palästina schmackhaft macht: das Wetter. Sonne und Wärme lassen beispielsweise die Algenforscher im Land der Olivenhaine manche Experimente besser umsetzen als in Jülich. Auch die Photovoltaik profitiert von dem sonnigen Standort. Und gleichzeitig fördert der Besuch der deutschen Wissenschaftler das Verständnis für die Bedeutung herausragender Forschung: Dafür aber sind eben Messgeräte und Labore notwendig.
„Wir haben die Kooperation mit einem Institutsleiter in Jülich begonnen, heute sind 22 dabei!“
Ghaleb Natour
Hasan Mohammad Hasan Sbaihat, 28 Jahre, promoviert am Institut für Neurowissenschaften und Medizin in Jülich und an der RWTH Aachen
Es gibt große Unterschiede zwischen Deutschland und Palästina – eigentlich auf allen Ebenen. Der größte Unterschied in der Forschung ist die fehlende wissenschaftliche Ausrüstung in meiner Heimat, aber gerade sie bildet das Herz der Forschung und hilft Wissenschaftlern dabei, einen Fortschritt zu erzielen. Und: Palästina unterstützt – anders als Deutschland – die Forschung finanziell nur geringfügig. Während meines bisherigen zweijährigen Aufenthaltes in Jülich war ich mit der Unterstützung der Science Bridge bereits zweimal in Palästina und habe an Universitäten Kurse gegeben, inwiefern neue moderne bildgebende Verfahren helfen, Krankheiten im Gehirn zu diagnostizieren. Indem ich mein neu gewonnenes Wissen weitergebe, trage ich dazu bei, eine neue Forschergeneration in Palästina aufzubauen.
Weitere Finanzierung gesichert
Kommen die Palästinenser nach Jülich, bringen sie neue Ansätze mit, beispielsweise Zelllinien oder einen neuen Algorithmus, den sie optimieren wollen. Oder sie vergleichen anhand von Computersimulationen das unterschiedliche Verhalten von weiblichen und männlichen Fußgängern in Deutschland und Palästina – daraus sind bereits gemeinsame Veröffentlichungen in Fachmagazinen entstanden.
Einmal im Jahr treffen sich alle Beteiligten zu einer großen Konferenz, mal in Jülich, mal in Palästina. „Natürlich gibt es geopolitische Probleme mit dem Gazastreifen, der hermetisch abgeriegelt ist. Findet der Workshop beispielsweise in Ramallah in der Westbank statt, können die Wissenschaftler aus dem Gazastreifen nur per Videokonferenz zugeschaltet werden. Eine persönliche Teilnahme ist gar nicht möglich“, erklärt Natour. Umso hoffnungsvoller stimmt ihn, dass aktuell zwei Frauen aus dem Gazastreifen in Jülich promovieren.
2021 wäre die Förderung der Science Bridge eigentlich ausgelaufen. Aufgrund der hohen Nachfrage und guten Zusammenarbeit hat das BMBF das Projekt aber schon vorzeitig bis 2024 verlängert und die Fördermittel aufgestockt. „Wir wollen das Programm weiter öffnen. Fachhochschulen miteinbeziehen und die berufliche Ausbildung berücksichtigen, um den Mittelbau in Palästina zu stärken“, erklärt Natour. Aus seinem wissenschaftlichen Engagement hat sich längst eine Herzensangelegenheit entwickelt, um Palästina eine Zukunft in Wissenschaft und Technik zu geben – eben jene Zukunft, die Ghaleb Natour in seiner Heimat verwehrt blieb.
Katja Lüers
Zwei Wissenschaftsbrücken, eine Erfolgsgeschichte
Erste Ideen zu einer Zusammenarbeit mit Palästina entwickelte Ghaleb Natour 2010 in Gesprächen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Im Dezember 2016 fiel der Startschuss für die „Palestinian-German Science Bridge“ (PGSB), im März 2020 bewilligte das BMBF die Verlängerung bis September 2024. Das Gesamtbudget liegt bei rund 5,8 Millionen Euro. Mehr als 20 junge Frauen und Männer promovieren in Jülich, 16 Masterstudenten und zehn Bachelorabsolventen haben ihre Arbeiten abgeschlossen. Das Förderprogramm trägt dazu bei, die Forschungs- und Technologieinfrastruktur an palästinensischen Universitäten langfristig und nachhaltig aufzubauen und zu entwickeln.
Auch mit Georgien besteht eine langjährige Verbundenheit: Die 2004 gegründete Georgian-German Science Bridge (GGSB) ging aus einem Kontakt zwischen Wissenschaftlern der staatlichen Universität Tiflis und dem Forschungszentrum Jülich Anfang der 1990er Jahre hervor. Feste Bestandteile der Zusammenarbeit sind Workshops, drei gemeinsam betriebene SMART|Labs in Georgien, Gastvorlesungen sowie Forschungsaufenthalte georgischer Wissenschaftler im Forschungszentrum.
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