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Forschung
1.000 Gehirne
Wie ändert sich die Struktur des Gehirns im Alter? Welche Rolle spielen Faktoren wie etwa Sport, Alkohol und Rauchen, und was unterscheidet normales Altern von krankhaften Veränderungen? Diese und zahlreiche weitere Fragen untersuchen Forscher in der „1.000-Gehirne-Studie“. Wissenschaftler aus Jülich, Düsseldorf, Essen und Basel haben erste Ergebnisse vorgestellt.
Alter
Verschiedene Hirnregionen altern unterschiedlich. Die rechte Gehirnhälfte, in der unter anderem das räumliche Denken verankert ist, wird im Alter offenbar stärker abgebaut als die linke Hemisphäre, in welcher zum Beispiel die Sprache zu Hause ist. Das könnte erklären, wieso bei älteren Menschen die Orientierung im Raum und das visuelle Arbeitsgedächtnis nachlassen, die sprachliche Kompetenz jedoch zeitlebens relativ konstant bleibt. Einen im Vergleich geringen Abbau erfahren die vorderen Gehirnregionen, in denen unter anderem die bewusste Kontrolle verortet ist. Zudem nutzen ältere Menschen mehr Gehirnareale als junge Menschen, um die gleiche Aufgabe zu lösen. Dies ist die sogenannte kognitive Reserve. Sie ermöglicht eine gewisse Kompensation von Alterungsprozessen.
Lebensstil
Klare Spuren im Gehirn hinterlassen Faktoren wie soziale Kontakte, Alkoholkonsum und Rauchen sowie körperliche Aktivität. Menschen, die in einem regen sozialen Umfeld leben, und auch sportlich Aktive zeigen im Alter einen geringeren Volumenverlust des Gehirns. Dies ist ein Indiz für einen geringeren Verlust von Nervenzellen. Ein hoher Alkoholkonsum geht hingegen mit einem stärkeren Verlust des Gehirnvolumens einher, als es alterstypisch wäre, und deutet auf den Untergang von Nervenzellen hin. Letzteres gilt als mitverantwortlich für eine geringere geistige Leistungsfähigkeit und Flexibilität im Alter. Rauchen beeinflusst hingegen weniger die Gehirnstruktur, sondern eher die Gehirnfunktion. Die gezielte Zusammenarbeit von Hirnregionen im ruhenden Gehirn ist bei Rauchern höher als bei Nichtrauchern. Das Gehirn ist also stets stärker ausgelastet. Dadurch ist die kognitive Reserve geringer als bei Nichtrauchern. Fallen etwa durch das Altern bestimmte Hirnregionen aus, haben Raucher weniger Kapazitäten frei, um für diese Bereiche andere Regionen zu aktivieren.
Vitamine
Um die Gedächtnisleistung zu erhalten oder wieder zu steigern, werden älteren Menschen oft B-Vitamine verschrieben. Diese Vitamine sollen die Kommunikation zwischen Nervenzellen verbessern. Offenbar sind die Wirkung und die Verarbeitungswege von B1- und B6-Vitaminen im Körper aber anders als bisher bekannt. Das Ergebnis der Jülicher Forscherinnen und Forscher zeigt: Bei Vitamin B6 scheint es immer positive Effekte zu geben, egal wie hoch die Werte im Blut sind. Hier gilt wohl: „Viel hilft viel“. Bei Vitamin B1 war den Forschern jedoch aufgefallen, dass trotz hohem Vitamin-B1-Spiegel im Blut ein Abbau der Gehirnsubstanz stattgefunden hatte. Vermutlich kommt das Vitamin B1 bei älteren Personen nicht mehr ausreichend im Gehirn an, wie Vorstudien zeigen. Die Ursachen dafür müssen zukünftig weiter erforscht werden.
Mehrsprachigkeit
Wer eine zusätzliche Sprache intensiv erlernt, legt an Gehirnvolumen zu – insbesondere zu Beginn des Lernprozesses und in zwei bestimmten Bereichen. Die Veränderungen zeigen sich einerseits im hinteren unteren Teil des Stirnlappens, wo unser motorisches Sprachzentrum zu Hause ist. Darüber hinaus verändert sich auch der untere Scheitellappen. Dieser ist ebenfalls an Sprache beteiligt, er fügt zudem verschiedene Informationen zu einem Gesamteindruck zusammen. Jülicher Forscher konnten nun zeigen, wie die Areale bei Mehrsprachlern altern: Einerseits nimmt das Volumen des motorischen Sprachzentrums auch bei Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, im Alter ab. Aber andererseits gleicht sich die Region erst in einem sehr hohen Alter an das Volumen von Menschen an, die nur eine Sprache beherrschen. Der zweite Sektor bleibt sogar noch länger stabil. Dies könnte erklären, wieso Mehrsprachler im Alter oftmals länger geistig fit bleiben.
1.300 Probanden, die meisten im Alter zwischen 55 und 85 Jahren, wurden im Jülicher Institut für Neurowissenschaften und Medizin seit September 2011 per Magnetresonanztomografie untersucht. Knapp 500 von ihnen nahmen nach vier Jahren nochmals an den Untersuchungen teil.
Daten zur Gesundheit und zur Lebenssituation der Probanden, unter anderem aus der Essener Heinz Nixdorf Recall Studie zur Herz- und Kreislaufgesundheit, ergänzen die Gehirnscans.
90 Terabyte Daten
Rund 90 Terabyte an Daten – das entspricht etwa dem Volumen von 90 Festplatten eines handelsüblichen Heimcomputers – umfasst der Datensatz der 1.000-Gehirne-Studie. Dabei reichen die enthaltenen Informationen von genetischen Daten über Blutwerte und Bilder des Gehirns bis zu Aussagen über die Lebenssituation. Die Experten schätzen, dass es rund zehn Jahre dauern wird, den einzigartigen Datenschatz umfassend zu analysieren.
Offene Fragen
Die Auswertung der 1.000-Gehirne-Studie steht erst am Anfang. Die Forscherinnen und Forscher prüfen zum Beispiel auch, wie sich das Spielen von Musikinstrumenten, die Ernährung, Ausbildung oder verschiedene Umwelteinflüsse wie Feinstaub und Lärm auf den Alterungsprozess auswirken. Sie können dabei mehrere Aspekte gleichzeitig betrachten – etwa ob sich Sport im Team besonders positiv auf das Gehirn auswirkt. So lassen sich Effekte aufdecken, die erst durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren entstehen.
„Unsere Forschungsergebnisse zeigen eindrucksvoll, dass sich eine gesunde Lebensführung auch anatomisch und funktionell im Gehirn widerspiegelt.“
Prof. Svenja Caspers,Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM-1)
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