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Forschung
Hautnah
Ihnen gehört die Zukunft: Wearables – kleine vernetzte Computer, die in der Kleidung stecken oder am Körper getragen werden. Ein neues hautähnliches synthetisches Material könnte die Technologie voranbringen oder auch als künstliche Haut für Roboter genutzt werden.
Einmal über den Jackenärmel gewischt, und das Wohnzimmerlicht schaltet sich aus, mit der Hand an den Mantelkragen getippt, und der Chef wird angerufen: Was nach Science-Fiction klingt, ist in der Wissenschaft und auch in der Bekleidungsindustrie längst angekommen. Es gibt kaum ein Thema, das die Fantasie der Menschen mehr anregt als kleine vernetzte Computer, sogenannte Wearables, die am Körper getragen oder in die Kleidung integriert werden.
Schon heute wird diese tragbare Technik vor allem im Sport eingesetzt: Smartwatches und Fitness-Armbänder messen Puls, Herz- und Atemfrequenz. Smarte Shirts überwachen den Schlaf oder helfen bei Yoga und Pilates Bewegungen richtig auszuführen. Diese Oberteile sind mit Sensoren ausgestattet, die Körperhaltung und Muskelbewegungen erfassen und durch leichten Druck an der jeweiligen Stelle auf falsche Bewegungen hinweisen. Inzwischen gibt es sogar Fitnessanzüge, die die Muskeln trainieren, ohne dass man sich selbst bewegen muss. Dabei stimulieren eingearbeitete winzige Elektroden die Muskeln von außen.
Der Physiker und Instrumentenwissenschaftler Baohu Wu untersucht Materie mithilfe von Neutronen. Hohe Anforderungen
Wearables erobern aber auch andere Bereiche: Diabetiker können damit ihren Blutzuckerspiegel messen, Datenbrillen projizieren Bilder direkt auf die Netzhaut und Wearables in Windeln tracken die Schlafphasen von Babys. Dabei geht es nicht nur um technische Herausforderungen wie etwa die Entwicklung winziger Sensoren, sondern auch um das stromleitende Material. Es muss robust und zugleich strapazierfähig sowie dehnbar sein – und natürlich angenehm zu tragen. „Eine zweite Haut sozusagen“, erklärt Dr. Baohu Wu. Am Jülich Centre for Neutron Science (JCNS) am Heinz Maier-Leibnitz Zentrum (MLZ) in Garching beschäftigt sich der Physiker und Instrumentenwissenschaftler mit Materialien, auch für Wearables.
Seine Inspiration holt er sich aus der Natur: aus biologischen Materialien, die Ionen, in diesem Fall elektrisch geladene Makromoleküle, leiten. Um die Beziehung zwischen der Struktur dieser Materialien und deren Eigenschaften im Detail zu verstehen, setzt er auf Neutronen- und Röntgenstreumethoden. Mithilfe dieser Methoden ist es Wu gelungen, gemeinsam mit Forschenden der chinesischen Donghua University in Shanghai ein hautähnliches synthetisches Material zu entwickeln, das alle Anforderungen an Materialien für Wearables erfüllt. Auch smarte Kleidung könnte profitieren. „Selbst künstliche Haut für Roboter ist denkbar“, erklärt Wu. Aufgrund der besonderen Eigenschaften des Materials könnten Roboter ihre Umwelt detaillierter und feinfühliger ertasten als bisher, sprich: menschlicher werden.
Bei dem Material handelt es um sich ein sogenanntes Elastomer, einen Kunststoff, der sich leicht dehnen lässt, ohne zu reißen. „Unser Elastomer bildet weit besser als bisherige Materialien sowohl die Elastizität unserer Haut nach als auch deren Fähigkeit, stabiler zu werden, wenn sie verformt wird. Und unser Kunststoff hat sogar deren Selbstheilungskräfte, kann also Beschädigungen selbst reparieren und die Funktionalität wieder herstellen“, erklärt Wu. Bislang war es kaum möglich, diese Eigenschaften in einem einzigen Material zu realisieren.
Der Trick von Wu und seinen Kolleginnen und Kollegen: Sie haben für ihr Material zwei dynamische Polymer-Netzwerke kombiniert, die miteinander wechselwirken und sich in ihren Eigenschaften optimal ergänzen: Das eine Netzwerk löst chemische Bindungen schnell. Das bedeutet, ein Material aus diesem Polymer-Netzwerk lässt sich zwar gut dehnen, reißt aber sehr schnell beziehungsweise leiert aus.
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beträgt die Dehnbarkeit des neuen Elastomers. Das bedeutet, es lässt sich auf seine 16-fache Größe ausdehnen. Zum Vergleich: Ein Luftballon lässt sich etwa auf seine 7-fache Größe aufblasen.
Das neue Material wurde mithilfe einer Neutronen-Kleinwinkelstreuanlage an der Jülicher Außenstelle am Heinz Maier-Leibnitz Zentrum in Garching untersucht. Dehnbar und reißfest
Im anderen Netzwerk bleiben die chemischen Bindungen dagegen stabil. Ein Material daraus reißt also nicht, wäre aber eher steif und kaum verformbar. Dank der Kombination lässt sich das neue Material extrem gut dehnen, ohne zu reißen, rutscht dann aber schnell wieder in seine ursprüngliche Form zurück. „Einfach formuliert: Es passt sich wie eine zweite Haut an. Nach unseren vorläufigen Erkenntnissen wäre es beispielsweise möglich, tragbare Geräte wie Elektrokardiographen wie eine zweite Haut auf dem Körper zu tragen“, so der Jülicher Forscher.
Hinzu kommt: „Die Eigenschaften unseres Elastomers können die Lebensdauer der Materialien von Wearables erhöhen, die Austauschkosten senken, die abbaubedingte Ineffizienz dieser Materialien verringern und die Produktsicherheit verbessern“, resümiert Wu. Indem er die Zusammenhänge zwischen den Strukturen und den gesuchten Eigenschaften aufgedeckt hat, hat er einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass seine Kolleginnen und Kollegen gezielt die erfolgversprechenden Materialien entwickeln konnten.
Wu hofft, dass das neue Material die Forschung voranbringt. Er glaubt fest an die Zukunft der Wearables: „Sie werden kontinuierlich an Bedeutung gewinnen. Und viele weitere Anwendungen sind denkbar, wenn es uns gelingt, noch kleinere und leistungsfähigere Sensoren und haltbarere Geräte zu entwickeln, die sich auch noch angenehm auf der Haut tragen lassen“, ist der Forscher überzeugt.
Katja Lüers
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