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Forschung
Wie lange lebt ein Neutron?
Obwohl die Physik den Aufbau von Atomkernen sehr gut beschreiben kann, gibt es bei einem fundamentalen Wert noch große Unsicherheit: bei der Lebensdauer des Neutrons. Mit einem neuen numerischen Verfahren sind Jülicher Forscher nun der Lösung dieses Rätsels einen Schritt näher gekommen.
Alle Atomkerne, aus denen unser Universum aufgebaut ist, bestehen aus Protonen und Neutronen – je nach Art des Atoms in unterschiedlicher Anzahl. Kommen Neutronen oder Protonen einzeln vor, unterscheiden sie sich in einem wichtigen Punkt: Während das freie Proton ewig oder zumindest unvorstellbar lange existieren kann, lebt ein freies Neutron vergleichbar kurz, bevor es zerfällt. Seine mittlere Lebensdauer beträgt nur rund 15 Minuten. Wie lange genau, können Physiker nicht sagen – ungewöhnlich für die sonst so präzisen Wissenschaftler.
Ein Grund sind unterschiedliche Beobachtungen: Betrachten Physiker das Verschwinden der Neutronen, erhalten sie eine andere Lebensdauer, als wenn sie das Auftreten der Zerfallsprodukte erfassen. Die zwei Messmethoden sind – für sich betrachtet – sehr exakt, ihre Ergebnisse unterscheiden sich aber um gut 8 Sekunden. Für Physiker ist das eine halbe Ewigkeit. Dieser Unterschied ist bisher nicht nur unerklärlich, sondern auch unbefriedigend. Die exakte Lebensdauer des Neutrons zu kennen, würde nämlich helfen, die Gesetze des Universums besser zu verstehen und theoretische Vorstellungen vom Urknall zu überprüfen.
Computersimulationen sollen hier weiterhelfen. Allerdings: „Wie lange ein einzelnes Neutron existiert, kann man nicht vorhersagen. Denn die Quantenmechanik, die diesen Prozess beschreibt, liefert lediglich Wahrscheinlichkeiten“, beschreibt Dr. Evan Berkowitz vom Institut für Kernphysik/Institute for Advanced Simulation (IKP-3/IAS-4) das bisherige Problem. Doch Berkowitz und seine Kollegen haben die Forschung einen wichtigen Schritt nach vorne gebracht: Sie berechneten mithilfe von Supercomputern erstmals direkt und so präzise wie nie zuvor, wie groß diese Wahrscheinlichkeit ist.
„Wir haben dazu die sogenannte Kopplungskonstante bestimmt. Sie beschreibt, wie leicht Neutronen aufgrund der schwachen Wechselwirkung zerfallen, der Kraft, die Umwandlungen von einer Teilchenart in eine andere bewirken kann“, erklärt Berkowitz. „Diese Konstante lässt sich mit dem Standardmodell der Teilchenphysik nur schwer berechnen.“
Auf den Punkt gebracht
Die neuen mathematischen Methoden der Forscher verbessern die bisher verwendeten Algorithmen eines Teils des Standardmodells, der sogenannten Quantenchromodynamik (QCD). „In ihnen werden Raum und Zeit mittels Punkten auf einem Gitter dargestellt“, erklärt Berkowitz. „Durch diese Konstruktion wird eine Berechnung der Beziehungen zwischen den Elementarteilchen grundsätzlich möglich – allerdings auch dann nur mithilfe leistungsfähiger Supercomputer.“
Die Methode weist außerdem den Weg zu weiteren Verbesserungen, die möglicherweise die Diskrepanz zwischen den Messungen der Lebensdauer des Neutrons aufklären können. Dazu müsste allerdings die Genauigkeit der Berechnungen noch weiter verbessert werden. Grundsätzlich kein Problem, wie Evan Berkowitz meint: „Wenn jemand bereit ist, die Stromrechnung für unsere aufwendigen Berechnungen auf Supercomputern zu bezahlen, können wir die Unsicherheit unserer Antwort immer weiter verringern. Aber“, warnt er, „solche Strommengen sind nicht billig.“
Jens Kube
„Wenn jemand bereit ist, die Stromrechnung für unsere Berechnungen auf Supercomputern zu bezahlen, können wir die Unsicherheit unserer Antwort immer weiter verringern.“
Evan Berkowitz
Mini-Universum simuliert
Neutronen und Protonen bestehen aus sogenannten Quarks – den kleinsten Bausteinen der Materie. Das Neutron ist aus zwei Down-Quarks und einem Up-Quark zusammengesetzt, das Proton aus einem Down-Quark und zwei Up-Quarks. Zusammengehalten werden die Quarks von den Gluonen, einer Art Teilchenkleber.
Wenn ein freies Neutron zerfällt, entstehen zum einen weitere Elementarteilchen – ein Elektron und ein Antineutrino –, zum anderen wandelt sich das Neutron in ein Proton um. In der Welt der Quarks bedeutet das: Aus einem Down-Quark wird ein Up-Quark. Jülicher Forscher haben die Häufigkeit dieses Prozesses berechnet, um die Wahrscheinlichkeit des Neutronenzerfalls zu bestimmen. Sie haben dazu den Teil des Standardmodells der Teilchenphysik genutzt, der beschreibt, wie Quarks und Gluonen miteinander in Wechselwirkung treten, die sogenannte Quantenchromodynamik (QCD). Die Berechnung ist überaus komplex, weshalb die Forscher nur ein winziges Modell-Universum mit einem einzigen Neutron, bestehend aus den Quarks, simulierten. Selbst für dieses vereinfachte System benötigten sie einen leistungsfähigen Supercomputer.
Ein weiteres Problem: Die Quantenchromodynamik besagt, dass Down-Quarks immer Down-Quarks und Up-Quarks immer Up-Quarks bleiben. Eine Berechnung mithilfe der QCD ergibt somit in der Regel, dass Neutronen stabil sind. „Die QCD ist aber eine Vereinfachung der Realität, denn sie beschreibt nur die starke Wechselwirkung zwischen den Teilchen. Wir müssen berücksichtigen, dass es auch kleine Effekte der schwachen Wechselwirkung zwischen Down-Quarks und Up-Quarks gibt – der Kraft, die es erlaubt, dass sich Teilchen umwandeln. Daher haben wir unserer Simulation die Transformation eines Downs-Quarks in ein Up-Quark hinzugefügt“, erklärt Evan Berkowitz. Dadurch können die Forscher die Kopplungskonstante ermitteln sowie die Wahrscheinlichkeit, dass ein Neutron zerfällt.
Ein Neutron besteht aus einem Up-Quark (u) und zwei Down-Quarks (d). Wenn es zerfällt, entsteht ein Proton. Dafür muss sich ein Down-Quark des Neutrons (d grün) in ein Up-Quark (u grün) umwandeln. Dabei wird ein weiteres Elementarteilchen abgestrahlt: ein negativ geladenes W-Boson (W-), das schließlich in ein Elektron (e-) und ein Antineutrino (Ve)zerfällt.© 2022 Forschungszentrum Jülich